Mit dem Übergang zu systemdynamischen Methoden, welche die Komplexität eines System (hier des EEG) bestimmen, wie die Entropie (https://de.wikipedia.org/wiki/Entropie), die fraktale Dimension (https://de.wikipedia.org/wiki/Fraktale_Dimension) wie auch der Ljapunov-Exponent (https://de.wikipedia.org/wiki/Ljapunow-Exponent) begibt man sich auf ein völlig neues Gebiet zur Untersuchung der EEG- Signale. Alle vorgenannten Größen bestimmen die Komplexität des Systems. In unserem Falle des Systems einer bestimmten Menge von EEG-Signalen, welche die elektrisch messbare Hirntätigkeit an der Oberfläche des Kopfes widerspiegeln, betrifft die Komplexität die Irregularität bzw. Vorhersagbarkeit eines Signals. Eine Sinus-Kurve ist ebenso gut vorhersagbar wie eine Überlagerung verschiedener trigonometrischer Funktionen. Diese sind sehr gut vorhersagbar und in keiner Weise irregulär.
Die Irregularität von EEG-Signalen kann in unterschiedlicher Weise bestimmt werden. Die Higuchi Fractal Dimension (HFD) misst die „Kräuseligkeit“ bzw. Glätte eines Signals als Kurve. Man betrachte dies ähnlich, wie das in der klassischen Chaostheorie z.B. mit Küstenlinien (Norwegen, Britannien, Schottland) gemacht wurde. Die Veränderung der Küstenlinie in Norwegen ist wesentlich schwieriger aus ihrem Verlauf vorherzusagen als die Küstenlinie in Frankreich südlich von Bordeaux. Ähnlich ist es bei einem EEG-Signal. Je unregelmäßiger dieses ist, umso höher seine Komplexität und umso höher seine fraktale Dimension wie auch Entropie.
Wie unter dem Menüpunkt „Resultate“ beschrieben, wurden die Mittelwerte der multiscale sample entropy (MSE) jeweils für eine Gruppe AD-Patienten und eine Gruppe von gesunden Kontrollpersonen für 16 Elektroden bestimmt. Die MSE misst auf unterschiedlichen Zeitskalen die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Mengen von Mustern, die für eine Anzahl von Datenpunkten ähnlich sind, auch einen Datenpunkt weiter noch ähnlich sind. Eine höhere Komplexität in den Mustern drückt sich hier in höheren Werten der MSE aus. Es ergaben sich für die HC-Gruppe, mit Ausnahme der höchsten Zeitskalen, höhere Werte der MSE als bei der AD-Gruppe, was zur Unterscheidung von Alzheimer-Patienten und Gesunden verwendet werden kann.
Wendet man das Entropie-Maß auf Schizophrenie-Patienten an, dann stellt man eine höhere Komplexität der EEG-Signale als bei der gesunden Kontrollgruppe fest. Das Entropie-Maß ist im Sinne eines Monitoring sehr nützlich, um z.B. die Tiefe einer Anästhesie oder die Wirksamkeit von bestimmten sedierenden Medikamenten zu bestimmen, desgleichen auch für eine korrekte Bestimmung komatöser Zustände oder des Hirntods. Interessant wäre die Entropie auch dafür, um epileptische Anfälle vorhersagen zu können. Hierzu gibt es bereits eine Fülle von Arbeiten.
Stellt man einen Bezug zur statistischen Physik her, denkt man bei Zunahme der Entropie oft an Zunahme von Unordnung. Wie kann dies im Einklang mit einer Zunahme der Komplexität des EEG sein? Der Schlüssel liegt in dem mit der Entropie verknüpften Begriff der Nicht-Vorhersagbarkeit, was auch pathologische Züge wie beim Beispiel der Schizophrenie haben kann. Umgekehrt ist bei Alzheimer-Patienten „die Diskussion des Hirn-Parlaments beendet“, wie Prof. N. Birbaumer (Universität Tübingen) anschaulich die Hirntätigkeit bebilderte.
Gleichzeitig ist das Auftreten des gefährlichen p-Tau-Proteins (bei Alzheimer- Patienten bereits im präklinischen Stadium) mit der Störung des circadianen Schlaf-Rhythmus verknüpft und stört diesen und die Funktion des GLS (Holth & Fritschi, 2019, Quelle in „Die Rolle von Schlaf & EEG“). Als Folge wird die Synchronisierung der lokalen Cluster im Schlaf (und auch tagsüber) gestört, d.h. die passgenaue Synchronizität, was sich auch in der gestörten Kohärenz des RSN (resting state network) ausdrückt, aber global durch eine kontinuierlich verringerte Entropie (bei jeder Elektrode - aber unterschiedlich) gekennzeichnet ist.
Denn es sind die Myriaden von verschiedenen Synchronisierungsereignissen, die die Mikrozustände des „funktionalen Systems Gehirn“ darstellen. Daher ist die Idee der Synchronisierung als Ausgangspunkt genommen für die Summe W der Mikrozustände, die die Entropie S über S = K · ln W bestimmt.
Bei AD nimmt diese Summe W der Synchronisierungen im Lauf der Zeit kontinuierlich ab und somit auch die Entropie! Das ist der Grund, warum die MSE beim EEG den Grad der AD-Progression misst (und auch z B. bei MCI im Unterschied zu HC und AD). Die fraktale Dimension des EEG ist methodisch hier nur ein Synonym für die Entropie, welche die zentrale Größe zur Bestimmung der Komplexität des EEG ist.
Die Komplexität des EEG-Signals nimmt ab, weil die Komplexität der Hirnfunktionen durch Zerstörung der Neuronen und den einhergehenden Verlust an Synchronizität abnimmt.
Generell ist eine ausgeprägte Hirntätigkeit komplexitätssteigernd und erhöht die Entropie (mehr Mikrozustände = Synchronisierung von feuernden Neuronen mit PAC = Phase-Amplitude-Coupling), ist also gut gegen AD. Daher sind alle Tätigkeiten der AD-Patienten, die auf eine Steigerung der Hirntätigkeit abzielen, seien es Gedächtnistrainings, Musiktherapie, Spiele jeglicher Art, die das Gedächtnis trainieren, geeignet, dem kognitiven Verfall entgegen zu wirken. Völlig kontraindikativ sind dagegen Medikamente, die sedierend und antriebsmindernd wirken, da hierdurch auch der Antrieb zum Lernen neuer Dinge untergraben wird, was so wichtig für viele Patienten wäre.
Die Synchronizität und deren Verlust wird aktuell intensiv erforscht. Dies betrifft sowohl die Korrelation der Tätigkeiten verschiedener Neuronen-Gruppen in den zwei Hirn-Hemispheren (Lateralität) und die Anwendung graphentheoretischer Konzepte, siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Graphentheorie, wie auch die physikalische Signalanalyse auf der Ebene der Kopplung der Phasen von miteinander verknüpften EEG-Signalen. Wir werden auf diese Entwicklungen zum geeigneten Zeitpunkt an dieser Stelle noch vertieft eingehen, insbesondere wenn auch von unserer Seite eigene Forschungsergebnisse hierzu vorliegen. Um diese komplexen Zusammenhänge erfassen zu können, muss eine Vielzahl intelligenter, die Vielfalt der Informationskanäle (EEG channels) berücksichtigende Analysen des EEG umgesetzt werden. Wir bedienen uns hier neben den bekannten multivariaten Verfahren auch fortgeschrittener Methoden der Zeitreihen-Analyse.