Das erste hohe Ziel der KI ist eine intelligente Software, die in der Lage ist, aus der ihr zur Verfügung stehenden Datenbasis aus der realen Welt zu generalisieren, d.h. eigenständige Schlussfolgerungen zu ziehen, deren kognitiver Rahmen (frame) außerhalb der Wissensdomäne liegt, welcher die Datenbasis zugrunde liegt.
Das zweite hohe Ziel ist es, eine Kommunikation und Interaktion mit Menschen auf dieser Grundlage durchzuführen, d.h. eine bedeutungsvolle (semantische) Kommunikation zu realisieren, die nicht bereits bekanntes Wissen wiederholt oder in geschickter Form (verblüffend) neu kombiniert.
Das dritte hohe Ziel ist es, die Kommunikation mit Menschen empathisch zu gestalten, d.h. den emotionalen Zustand des Gesprächspartners wahrzunehmen, diesen zu interpretieren und die der KI eigene Gesprächsführung entsprechend dieser Interpretation zu modifizieren und so zu gestalten, dass sich der menschliche Gesprächspartner angenommen fühlt.
Von allen drei Zielen ist man in der Forschung noch sehr weit entfernt. Sich den drei Zielen aber auch nur anzunähern, ist bereits Voraussetzung, um Verantwortung bei der Entwicklung von KI-Projekten zu übernehmen, im Sinne einer Ethik, wie sie bereits von I. Kant formuliert wurde.
Einstein definierte Empathie wie folgt:
„Empathie ist der Versuch, geduldig und ernsthaft die Welt durch die Augen anderer Menschen zu sehen. Sie kann nicht in der Schule gelernt werden. Sie wird während der gesamten Lebenszeit kultiviert.“
Wir sind uns dessen wohl bewusst. In unserem Projekt IASON wollen wir einen Ansatz zur Entwicklung „Künstlicher Empathie“, siehe auch https://en.wikipedia.org/wiki/Artificial_empathy realisieren, der nicht derartig hohe Ziele erreichen, gleichwohl die Menschen, Patienten mit Alzheimer-Krankheit, aber auch deren Angehörige und Betreuer bei der Bewältigung ihres praktischen Lebens, d.h. vor allem der Kommunikation, unterstützend begleiten will.
Alzheimer-Patienten sind in ihrem sprachlichen Ausdrucksvermögen, welches sich auf ein mehr und mehr zerstörtes Kurzzeit-Gedächtnis gründet, erheblich eingeschränkt. Allerdings ist das Langzeit-Gedächtnis, je nach Fortschritt der Erkrankung, noch lange Zeit gut verfügbar. Es gibt viele Gedächtnisse im Körper, siehe Straub (2020) im Menüpunkt „Weiterführendes“. Allerdings gibt es auch eines, das „sensorische Gedächtnis“, wie Prof. Birbaumer es in seiner Vorlesung vom WS 2001 „Medizinische Psychologie und medizinische Soziologie I, 3. Stunde“ beschreibt, siehe https://timms.uni-tuebingen.de/tp/UT_20011112_001_medpsych_0001, welches dem Bewusstsein prinzipiell unzugänglich ist, dessen Informationen aber in bewussten oder vorbewussten Handlungen verwendet wird oder werden kann.
In der Vorlesung handelt es sich um das Verhalten von Split-Brain-Patienten, deren „Verbindungsbrücke“ (das corpus callosum) zwischen linker und rechter Hirnhälfte durchtrennt wurde, meist um übergreifende Epilepsien zu verhindern. Präsentiert man diesen Patienten einen Text getrennt jeweils dem rechten oder linken Auge, so produziert das (meist linksseitig lokalisierte) Sprachareal einen mehr oder minder konsistenten Ergebnistext, der auch Begriffe enthält, die von der unzugänglichen Hirnhälfte, in dem Falle also der rechten, stammen. Die Schlussfolgerung ist, dass schließlich doch etwas Information von der rechten Hirnhälfte nach links „durchgedrungen“ sein muss, die dem Patienten aber in keiner Weise bewusst sein kann.
Dies gibt Anlass, das Thema „microexpressions“ in diesem Kontext mit der Entwicklung von künstlicher Empathie zu verknüpfen, siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Microexpression.
Diese soll nicht nur helfen, den Patienten besser zu verstehen, sondern auch dem Patienten helfen, sich besser in der Welt zu Recht zu finden und sich auch an Dinge zu erinnern, die schon lange als vergessen gelten, zumindest in sprachlicher Form.
Es sind wichtige wissenschaftliche und praktische Fragestellungen, die hierbei entstehen, wie z.B. „Welche microexpressions treten bei AD-Patienten in welchen Gesprächssituationen in welcher Häufigkeit und Intensität auf?“, „Welche Parameter verändern sich im Zuge der Progression der Krankheit?“, „Welche Auftritte/Veränderungen der microexpressions würden in einer sehr frühen Phase der Erkrankung erkennbar sein?“, „Lassen sich diese Erkenntnisse für eine Frühdiagnose/Vorhersage nutzen?“, „Welche Korrelationen mit dem EEG gibt es?“, „Werden verbale Aussagen von AD-Patienten des Erkennens/Nicht-Erkennens begleitet von microexpressions und sind diese übereinstimmend oder sich widersprechend?“.
Gerade die letzte Frage ist auch für die Praxis im empathischen Umgang mit den Patienten sehr wichtig. Prinzipiell sind die verbalen Aussagen von Patienten mit eingeschränktem Bewusstsein/Gedächtnis mindestens widersprüchlich und nicht sehr zuverlässig. Gleichzeitig finden, wie in der Vorlesung von Prof. Birbaumer oben bereits angesprochen, tiefere und unbewusste sensorische Verarbeitungen sehr wohl statt, wie die erwähnten Split-Brain-Experimente zeigten, bei denen dann das „Sprachzentrum“ eine Melange der zwei links und rechts getrennt gelesenen Sätze produziert hat, die zwar falsch, aber plausibel war.
Eine innovative Anwendung der microexpressions im Lichte dieser Erkenntnis wäre eine Antwort auf die sehr praktische (und emotionale) Frage: „Erkennt der AD-Patient seine Verwandten und Freunde (angezeigt über microexpressions), auch wenn er/sie dies verbal verneint?“ Eine positive Antwort auf diese Frage wäre für die Angehörigen/Betreuer/Ärzte/Pfleger sehr wichtig für ihren Umgang und insbesondere für deren Emotionalität und Empathie.
Zu diesem Zweck soll eine künstliche Empathie für den IEEDA ALOIS entwickelt werden, die den Dialog zwischen den beteiligten Personen moderiert und aufgrund der analysierten microexpressions wie auch der sprachlichen Äußerungen der Alzheimer-Patienten in der Lage ist, die Angehörigen/Betreuer darüber zu informieren. Dies ist in Zeiten der COVID-19-Krise, in der viele Kontakte zwischen Patienten und Angehörigen über Videokommunikation stattfinden müssen, ggf. eine Möglichkeit, in dieser kritischen Situation allen Beteiligten einen „Silberstreif am Horizont“ aufzuzeigen.
Dr. Thomas Fritsch und Angelika Relin haben zum Thema „Empathie und künstliche digitale Assistenten“ einen Essay (PDF, 3,6 MB) geschrieben.